Hatte ich geschlafen?

Kann ich überhaupt schlafen?, fragte ich mich. Auf jeden Fall war ich nun wach und sah wieder die verschwommenen Umrisse vor mir. Helle Flecken tanzten oben mittig und an beiden äußeren Rändern meines Blickfeldes. Der Boden schien gekachelt, oder zumindest von einer Art Muster bedeckt. Und da war auch ein Geräusch! Ich konnte es kaum glauben: Ich hörte! Ich vernahm eine Art Summen oder Sirren. Vielleicht waren es Stimmen … viele Stimmen. Ich nahm ein unregelmäßiges Durcheinander wahr, das gleichzeitig rhythmisch schien. Merkwürdig, dachte ich.

Und plötzlich wurde mir alles klar, im buchstäblichen Sinne. Ich konnte sehen! Vor mir ergab sich das Bild einer riesigen, wunderschönen Bibliothek. Auf allen Seiten standen Bücher über Bücher, in Regalen, die bis zur Decke reichten. Ich blickte direkt in die Mitte des Saales auf eine Art Tisch, um den sich eine Schar Kinder versammelt hatte. Menschenkinder, dachte ich und seufzte. Ich bin wieder auf der Erde. Als Buch. Die Kinder wisperten, raunten und kicherten.
„Nein, bist du nicht.“, sagte jemand neben mir. Ich versuchte, den Blick zur Seite zu drehen, doch es gelang mir nicht. Kann ich sprechen?
„Klar, versuche es doch einfach.“
Ich räusperte mich.
„Hallo.“
Es klappte! Ich hörte meine eigene Stimme, wenn auch dumpf. Ich habe nicht mal meinen Mund bewegt. Habe ich überhaupt einen Mund? Die ganze Sache kam mir langsam unheimlich vor.
„Nein, du hast keinen Mund. Du bist ja kein Mensch, sondern ein Buch.“ Die andere Stimme lachte. Es klang freundlich.
„Bist du auch ein Buch?“, fragte ich.
„Ja. Ich heiße Das Mädchen, das sich das Brot vom Tod geliehen hatte.“

Wow, was für ein seltsamer Name, dachte ich. Und was für ein wahnsinnig guter Titel!
„Danke.“
„Ich bin Nadine.“
„Ich weiß.“
„Woher denn das?“
Das Sprechen fiel mir nun leicht, aber der Inhalt bereitete mir Sorgen.
„Kann ich dich sehen?“, fügte ich eine zweite Frage hinzu. Ich musste unbedingt die Kontrolle wiedergewinnen.
„Im Moment leider nicht. Aber mach dir keine Sorgen, liebe Nadine. Ich bin hier, um dir zu helfen.“
Mein irdisches Ich wurde misstrauisch. Aber ich war nun ein Buch, konnte sprechen ohne einen Mund, sehen ohne Augen, mich unterhalten mit einem anderen Buch, das einen wundervollen Titel trug.

Moment, dachte ich.
„Wieso heiße ich immer noch Nadine? Müsste ich nicht einen richtigen Buchtitel haben?“
Das Mädchen, das sich das Brot vom Tod geliehen hatte, antwortete mit einem Lächeln, das konnte ich hören.
„Nadine ist dein Buchtitel. Du darfst jetzt zusammen mit deiner Autorin herausfinden, warum.“
Diese Aussage verwirrte mich, so dass ich noch mehr Fragen stellen wollte, aber ich wurde schlagartig müde und die Bibliothek verschwamm vor meinem Blickfeld. Die Kinderstimmen wurden immer undurchdringlicher, ein wilder Wust aus geflüsterten Worten, bis ich schließlich ganz den Kontakt zu mir verlor.


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