Eine gefühlte Ewigkeit trieb ich umher.

Kein Licht, kein Weltall mehr. Nur noch reine, zarte Dunkelheit, in die ich mich nach und nach einfügte, der ich mich hingab, in die ich einsank, die mich zur zweidimensionalen Seele machte.

„Aufwachen“, sagte jemand. Ich schlug die Augen auf und vernahm den zarten Duft von Lavendel. Vor mir stand ein Zwerg. Er hatte einen spitzen Hut auf dem Kopf und schaute streng auf mich herunter. Auf mich, die in einem verboten bequemen Pyjama mit Herzchenmuster genüsslich im Feld lag und geschlafen hatte. „Ist das ein Traum?“, fragte ich den Zwerg. Der lachte drei Mal, ohne das Gesicht auch nur im Ansatz zu verziehen. „Nein.“
Oh. War ich etwa schon im nächsten Leben? Ich schaute mich um – weit und breit war nichts als Lavendel. Wenigstens würden hier keine Spinnen über mich herfallen, da war ich mir ziemlich sicher.
„Das ist ist das Afterlife“, konstatierte der Zwerg. Ich bemerkte erst jetzt, dass er ein Klemmbrett in der Hand hielt und einen Kugelschreiber hinter sein Ohr gesteckt hatte. Ich fühlte mich wohl in meinem Körper. Bestimmt war ich keinen imaginären Tag älter als achtundzwanzig.
„Wieso habe ich einen Körper?“, fragte ich weiter.
Diesmal schüttelte der Zwerg den Kopf.
„Ich stelle hier die Fragen.“
„Oh.“
„Also, das ist natürlich kein Körper, sondern ein Behelfskörper für den Übergang.“
Ich nickte. Natürlich, so musste es sein.
„Dann wollen wir mal“, fuhr der Zwerg fort. „Lebensziele, Erdenalter, Anzahl der verursachten Tränen, Anzahl der verursachten Glückstränen, Anzahl der …“ Er zählte eine Reihe unwichtiger und negativer Dinge auf.
„Moment!“, rief ich dazwischen. „Das ist doch nicht ernsthaft Ihre Liste für mein letztes Erdenleben. Was ist mit …?“ Ich zählte eine Reihe positiver und wichtiger Dinge auf. Dann überlegte ich einen Moment und fuhr kleinlaut fort: „Oder kommen da noch mehr Faktoren?“
Der Zwerg sah mich ungerührt an.
„Fahren Sie fort“, sagte ich.
Wieder fing der Zwerg an zu lachen, dieses Mal aus tiefster Kehle. Sein rosiges Gesicht durchzogen sympathische Falten.
„Ich wollte dich nur ein bisschen auf den Arm nehmen. Immerhin bist du ja nicht ins Afterlife gekommen, um wie auf der Erde einer To-Do-Liste hinterherzuhechten. Hier kannst du dich mit niemandem vergleichen, hier geht es nur um dich. Wie hast du es erlebt?“
Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. „Hm. Es war wirklich sehr vielseitig. Ich habe wundervolle Menschen um mich gehabt, viele Länder bereist, unendlich viel gelernt. Ich durfte Tochter, Schwester, Freundin, Ehefrau, Tante, Nichte, Cousine, Sternenmama, Mutter und noch vieles mehr sein. Das Leben als Frau hat sich oft verkehrt angefühlt, bis ich genau das thematisiert und erforscht habe – um festzustellen, dass es eigentlich allen Frauen so geht. Und schließlich alle Menschen in dem System, auf der Welt, darunter litten. Ich fühlte mich als Mensch verantwortlich für unseren Planeten und doch oft viel zu klein, um etwas zu bewegen. Ich entdeckte Meditation und klärte mich innerlich. Ich wurde unabhängig und konnte dadurch Beziehungen eingehen. Und schließlich war ich Künstlerin. Das machte mein Leben voll bewusst.“ Ich überlegte einen Moment.
„Darf ich jetzt als Buch auf die Erde zurückkehren?“


Hier geht es weiter.

Starte hier von vorn mit der Geschichte.

Hinterlasse einen Kommentar